Schönhauser Allee
Ich ging die Schönhauser hinunter, ließ mich, ohne festes Ziel, durch das Menschengewühl treiben, sah in Schaufenster, aber ich sah eigentlich nichts, jemand stieß mich an, ohneAbsichtvermutlich, aber ohne Entschuldigung.
Ich wechselte unter den Trakt der Hochbahn, die sich grau und fest über die Straße wölbte, eine Art stählerner Schutzschirm, Straßenbahnen fuhren vorbei, olivgrüne Militärlastwagen, auf denen Uniformierte saßen mit eisernen Mienen. An der Dimitroff sprang mir ein Transparent ins Auge, das Weiß auf Rot ALLE KRAFT ZUR LÖSUNG DER ÖKONOMISCHEN HAUPTAUFGABE forderte, und ich bog rechts ab, die Eberswalder hinunter, vorbei an der Post am Stadion. Überall dasselbe Bild, Sperrketten bewaffneter Kampfgruppen und auf beiden Seiten Menschen.
Ich spürte eine körperliche Sehnsucht nach Marie, schlug die Richtung nach Hause ein. Lief instinktiv die Straßen in Grenznähe entlang, Kremmener, Rheinsberger, Anklamer, überall Menschen vor bröckelnden Fassaden, Kopfschütteln und heftige Armbewegungen. An einer Ecke standen Frauen und sahen hinüber auf die andere Seite. Eine rief: Verwandte ersten Grades dürfen immer, Verwandte zweiten Grades nur auf Genehmigung! Während eine andere wölfische Blick um sich warf ungezwungen zu lachen begann.
- Nee, nee, sagte eine Dritte, im Radio habe ich gehört ... Sie dämpfte ihre Stimme, als ich vorüberging."
Quelle: Am Ende der Jugend. In: BerlinerTraum. Frankfurt/M.: S. Fischer, S.161f.
Mit Marie durch Kreuzberg. Wie in einer anderen Stadt. Die Bauten alt, mit groben Fassaden, aus denen der Putz bröckelt. Auffallend viele Häuser mit gardinenlosen, staubblinden Fenstern. Abrißar-beiten in der Nähe der U-Bahn, die als Hochbahn bis zum Schlesischen Tor führt. Ein grau-gestrichener stählerner Trakt wie in der Schönhauser Allee. Und ein Pendant der Markthalle, paar Karrees weiter, steht doch Invaliden Ecke Brunnen, im Bezirk Mitte!
Quelle: Fliegender Wechsel. Frankfurt: S. Fischer Verlag 1990, S. 42f.
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